Dienstag, 15. Februar 2011

Alltag

Eines Tages bimmelte es bei uns zu Hause an der Wohnungstür, ich öffnete sie. Vor der Türe stand ein Mann. Er stellte sich vor. Er war ein Vertreter der evangelischen Kirche. Mein Vater ließ ihn gar nicht erst in die Wohnung und fragte ihn an der Türe was er wünscht.
Ihr Sohn, meinte er und zeigte auf mich ist ja nun 18 Jahre und es wäre an der Zeit das er Kirchensteuer entrichtet. Mein Vater überlegte eine Weile und sagte zu ihm:
Wissen sie junger Mann, als die Mutter meiner Kinder aus dem Leben geschieden ist, da haben sie sich nicht um unsere Familie gekümmert, das war ihnen egal. Aber von Halbwaisen die noch nicht einmal wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen, Steuern haben wollen, das ist ihnen nicht zu blöd. Christlichkeit wäre anders zu verstehen. Damit war das Gespräch für meinen Vater beendet, er machte die Tür wieder zu. 
Auf Arbeit  stellte ich fest, es wurde ganz schön rum gesoffen. Meistens in der zweiten Schicht. Da war kein Meister mehr auf Arbeit. Wenn einmal getrunken wurde, wurde anschließend auch nicht mehr gearbeitet. Einige konnten auch nicht mehr arbeiten. Als Lehrling durfte man selbstverständlich nicht mit trinken. Die Zeit zum nichts tun, musste  rausgearbeitet werden, schließlich gab es ja Normzeiten. Aber das war kein Problem. Vor allem für die Fräser nicht. Das Fertigen der Einsätze von Gießformen dauerte mehrere Wochen. Da konnte man schon Zeit schinden. Für die komplizierten Konturen, mussten sich die Fräser ihr Werkzeug, sprich den Fräser, selber schleifen. Dafür bekamen sie extra Zeit gut geschrieben. Diese Fräser steckten sie nach getaner Arbeit in ein so genanntes Fräserbrett. Es gab für jede Gießform ein eigenes Brett. Musste ein Einsatz neu gefertigt werden, hatten sie gleich den passenden Fräser parat. Auf diese Art und Weise hatten sie schon Vorlauf, bevor sie mit der Arbeit begannen. Beim Drehen konnte man Zeit schinden, wenn man mit hohem Vorschub arbeitete. Auch hier gab es Arbeiten, da dauerte es mehrere Tage bis das Werkstück fertig war. Manche übertrieben es mit dem Trinken. Kollege Zimmermann, den alle nur Zumbe riefen flog im Suff einmal gegen seinen Werkzeugschrank und schmiss ihn um. Im Schrank befanden sich die Fräserbretter. Die einzelnen Fräser flogen aus dem Schrank. Sie konnten nur noch weg geschmissen werden. Die Arbeit von vielen Jahren, war mit einmal futsch. Wenn in der Fräserei getrunken wurde, durften die Lehrlinge in der Abteilung auch nicht mehr arbeiten, denn Lärm stört beim trinken. Von den Lehrlingen arbeitet Uwe und Kille in der Fräserei. Sie kamen dann immer zu mir an die Drehbank und hielten mich von der Arbeit ab.
Kollege Hegenbarth durfte ich duzen. Ich nannte ihn wie alle einfach nur Barth. Eines Tages kam ich früh auf  Arbeit und war der Erste. Plötzlich schaute ein Kopf hinter der Drehbank hervor. Ich erschrak gewaltig. Barth war am Abend lange einen Trinken gewesen und ist im Anschluss gleich auf Arbeit. Dort angekommen, hatte er sich in die Spänekiste hinter der Drehbank zum Schlafen gelegt. Solche Dinge passierten öfters. Es gab aber auch Vorgesetzte die rochen schon von weitem den Alkohol. Einer von  diesen war Obermeister Metzger. Auf Arbeit trug er immer einen grünen Kittel. Das brachte ihn den Spitznamen grünes Ungeheuer ein. Wenn er einmal Alkohol roch war eben wie ein Ungeheuer. Der Betroffene musste ins Röhrchen pusten. wurde Alkohol im Blut festgestellt, durfte er nach Hause gehen. Die ausgefallene Arbeit bekam er natürlich nicht bezahlt, aber dafür bekam er einen Verweis. Einen Verweis handelte sich auch ein, wer heimlich eher von Arbeit nach Hause ging. Gewöhnlich passierten solche Sachen Freitags zur zweiten Schicht. Viele Kollegen hatten keine Lust  vor Wochenende bis Schichtschluss zu arbeiten. Gewöhnlich verschwanden sie nach 20.00 Uhr, obwohl die Schicht bis 22.30 Uhr ging. Ab und zu kontrollierte die Werksleitung die Anwesenheit. Da war sich selbst der Betriebsdirektor nicht zu schade. Eigentlich gab es bei den Schichtarbeitern nur wenige die keinen Verweis hatten. Aber es gab viele die einen strengen Verweis hatten, wenn sie das zweite Mal erwischt wurden. Oftmals schrieben auch die Pförtner die Namen von denjenigen Kollegen auf die heimlich sich aus der Firma schlichen. Eine von den Pförtnern war Frau Wilhelm und die hatte einen richtigen Dachschaden. Es hieß immer sie wäre eine kaputt gespielte Lehrerin, ob das der Wahrheit entsprach konnte ich nicht sagen. Sie führte eine Liste über Kollegen die sie nicht leiden konnte. Wer bei ihr auf der schwarzen Liste stand, der brauchte sich nicht an ihr vorbei schleichen. Erwischte sie ihn war er fällig. Das Problem mit ihr löste sich auf eine ungewöhnliche Art und Weise. Als Pförtner hatte sie unter anderem, verschiedene Kontrollgänge zu erledigen. Sie wurde dabei immer von mehreren Katzen bekleidet. Sie war eine richtige Katzenjule.  Einer dieser Gänge führte sie in das Trafohaus. Dabei schlich sich eine Katze mit ein und diese verursachte einen Kurzschluss. Der Strom viel für mehrere Tage aus und die Katze hatte die Form einer Kohle angenommen. Die Kollegen mussten in den Zwangsurlaub. Nach dieser Aktion wurde Frau Wilhelm entlassen. Es war übrigens das einzige Mal das wirklich jemand entlassen wurde.
Auch aus der großen Weltpolitik gab es Neues zu berichten. Die DDR hatte ende August den ersten Deutschen in den Weltraum geschickt. Das wurde medienwirksam ganz groß aufgezogen. Die politischen Scharfmacher auf ostdeutscher Seite sahen in dem Weltraumflug von Siegmund Jähn die politische Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus. Nach der Landung wurde Siegmund Jähn im gesamten Ostblock rumgereicht wie ein Tuch. Man merkte dem eher bescheidenen Oberstleutnant der NVA an, das ihm solche Feierlichkeiten nicht zu sagten. Das verschaffte ihm bei der Bevölkerung die eigentliche Anerkennung.  Mir ging das ganze Gemache sowieso auf die Nerven. Die Roten sollten lieber sehen, dass es neben den viel gepriesenen Grundnahrungsmittel auch andere Dinge in den Laden kamen.
Der Umgangston auf Arbeit war rau und nicht unbedingt herzlich. Manchmal graute es einen auf Arbeit zu gehen. Ständig wurde man dumm belegt oder richtig angemacht. Mich schickt man mit Vorliebe Kaffee holen. Einmal war ich der Lehrling und für solche Arbeiten sowieso zuständig und andererseits verschwepperte ich beim Kaffee holen immer etwas aus der Kanne aufs Tablett. Das war für die Meisten ein Grund, einen für blöd zu erklären, laufend wurde man verspottet, es wurde schon zum Volkssport. Aber nicht nur mir ging es so. Wenn es darum ging andere zu ärgern war Barth einfach Spitze. Kollege Meier arbeitete in der Arbeitsvorbereitung. Er war früher einmal Fräser gewesen. Eine Krankheit hatte ihn über Nacht erblinden lassen. Es hatte fast ein halbes Jahr gedauerte bis er wieder sehen konnte. Seine ursprüngliche Tätigkeit konnte er nicht mehr ausüben. Er hatte den Spitznamen Jauche, wenn mal was in seinem Leben daneben ging war es sein Schlagwort. Meier hatte eine Tochter, die mit mir im Betrieb lernte. Hässlich war sie nicht, aber sie hatte eine unreine Gesichtshaut. Für Barth war es das gefundene Fressen. Jedes Mal  wenn Meier an ihm vorbeilief brüllte er ihn hinterher:
Wenn du mir die Hälfte deines Lohnes gibst und dazu wöchentlich zwei Flaschen Schnaps, dann heirate ich auch deine Tochter. Aber ohne Schnaps läuft da nichts, ich muss deine Tochter erst einmal schön saufen. Genauso gerne ärgerte er Helga. Sie arbeitete an einer kleinen Drehbank. Helga war nicht groß sie war vielleicht 1,55m und hatte das berühmte Würfelformat a hoch 3. Barth wollte immer wissen wie schwer sie war. Das war Helgas wohl gehütetes Geheimnis. Im alten Formenlager gab es eine Waage, die war in den Erdboden eingelassen. Barth hetzte Peter auf, Helga mit reinzulegen. Peter bat Helga ihm beim tragen eines Gießformeinsatzes zu helfen. Er richtete es so ein dass Helga über die Waage lief. Barth stand auf der Lauer. Im Anschluss wogen beide das getragene Teil und schon hatten sie Helgas Gewicht. Eine Stunde später wusste jeder im Betrieb, Helga brachte 75 kg auf die Waage.
Eines Tages kam ich zur zweiten Schicht, ich sollte Peter an der Drehbank ablösen. Es war ein gutes Arbeiten an der Drehbank von Peter, er arbeitete an einer  deutschen Maschine. Das war schon etwas anderes wie meine alte Rumänenschüssel. Ich zog mich gerade in der Gaderobe für Lehrlinge um. Die Tür zu der für die Facharbeiter stand weit offen, Barth zog sich gerade aus. Ich dachte noch der ist aber zeitig dran, da viel er auch schon um. Entsetzt rannte ich zu Barth und wollte ihm wieder auf die Beine helfen. Da merkte ich, er war stock betrunken. Er brachte kein gescheites Wort mehr  zusammen. Ich schleifte ihn unter die Dusche damit er wieder einiger Maßen klar sah. Im Anschluss ging ich an meine Maschine, Peter fehlte. Das grüne Ungeheuer kam zu mir gesaust und fragte mich wo Peter ist. Woher sollte ich das wissen, ich war doch gerade erst gekommen. Er meinte nur, sollte er auftauchen schick ihn zu mir. Nach 5 Minuten kam Peter, er hatte sich versteckt. Zusammen hatte er mit Barth und Zumbe mehrere Flaschen Dessertwein getrunken. Verdünnt hatten  sie das Ganze noch mit ein paar Flaschen Bier. Er fragte mich ob das grüne Ungeheuer bei mir war, ich nickte. Peter meinte er gehe jetzt lieber nach Hause, da können sie ihm nichts mit dem Alkohol. Peter hatte Pech, beim verlassen des Betriebes sah ihn Fritzsche Heinz, der Meister von der Formreparatur. Da hatten sie ihn wegen vorzeitigen verlassen des Betriebes am Hintern.
Die nächsten vier Wochen wurde meine Drehbank überholt, so lange blieb ich mit an Peters Maschine. Die Drehbank stand schon im Bereich der Nachbarabteilung, der Formreparatur. Da blieb es nicht aus, das man auch Kontakt mit den Kollegen der anderen Abteilung hatte. Einer von ihnen konnte sich nicht mein Namen merken und verpasste mir den Spitznamen den ich nicht mehr loswerden sollte. Er rief mich Nickeneck. Nickeneck war ein kleiner Fernsehkobold, der gerade jedes Wochenende über die Mattscheibe flimmerte. Aus Nickeneck wurde ganz schnell Nicki damit war mein Spitzname geboren. Ab sofort war ich nur noch der Nicki. Mir war es eigentlich egal wie sie mich riefen. Nach Beendigung der Lehre wollte ich sowieso die Firma wechseln. Bei Roland in der Firma sollte eine Stelle frei werden, die genau meinen beruflichen Vorstellungen entsprach. Da es in der DDR an vielen mangelte, hatte das KBW Dresden eine Stelle geschaffen, wo bestimmte Ersatzteile selber gefertigt wurden. Diese wurden auf der Drehbank oder der Fräse gefertigt. Genau der Kollege der diese Teile bearbeitete wollte aufhören. Ich hatte meine Bewerbungsunterlagen schon abgegeben.
Auch im Leben nach der nach der Arbeit ging es munter weiter. Mit Roland, Becki und Conny feierten wir meinen 19. Geburtstag und  dann war es auch nicht mehr weit hin bis Silvester. Conny kümmerte sich diesmal darum. Sie besorgte zwei Karten für das Ringkaffee. Ich rümpfte die Nase. Das Ringkaffee hatte etwas anrüchiges, es war die Schwulenkneipe von Dresden. Conny meinte du bist ja mit mir, da werden dich die Habbidabbis wohl in Ruhe lassen. Außerdem werden Silvester auch jede Menge Heteros da sein. Roland wollte auf keinen Fall da mit hin. Ganz so verbissen sah  ich es nicht. Außerdem hatte Roland keine Alternative zu bieten. Kurz vor Weihnachten kam Hüni auf Urlaub. Er war nun im dritten und letzen Diensthalbjahr. Gewöhnlich wurde man im dritten Diensthalbjahr automatisch Gefreiter. Hüni wurde nicht befördert. Er war schon immer einer von den Harten. Er erzählte vom neusten Schrei bei ihm auf der Kompanie, Brotwein.
Was ist denn das, fragte ich staunend??
Der wird wie Fruchtwein angesetzt, Brot wird ja aus Getreide gemacht und gärt genauso, erklärte er. Mehrere  Ballons hätten sie davon gemacht.
Das soll schmecken? Ich war entsetzt.
Nö meinte Hüni, aber drehen tut es und das ist die Hauptsache.
Da hatte er wohl recht.
Weihnachten war wieder mal Burgfrieden. Drei Tage gab es keinen Streit. Das war Balsam für die Seele. Ich hatte noch ein paar Tage Resturlaub. Die nahm ich zwischen Weihnachten und Neujahr. Silvester kam Conny zu mir. 18.00 Uhr machten wir los. Das Ringcafe befand sich an der Ecke Külzring / Wallstraße unweit des Altmarktes. Wir liefen 20 Minuten. Zufälligerweise hatte mein Lehrfacharbeiter seine Silvesterfeier im selben Haus gebucht. Es war rund um den Altmarkt  merkwürdig ruhig und dunkel. Aber vielleicht kam es auch einen nur so vor. Kurz nach zwei war Schluss. Wir wollten bei Conny schlafen, denn am Neujahr standen noch ein paar Anstandsbesuche an. Auf dem Weg zum Bahnhof fand ich es mächtig kalt. Im Bahnhof herrschte das Chaos. Viele Züge vielen aus. Die Temperaturen waren mittlerweile auf  Minus 20 Grad gefallen, Oberleitungen waren gerissen. Es gab Stromabschaltungen. Wir entschlossen uns bei Vater zu schlafen. Es war das Beste was wir tun konnten. Früh am Morgen berichteten sie im Rundfunk und im Fernsehen von dem Unwetterchaos. Viele Stromausfälle in der ganzen Republik. Die Dresdner Innenstadt war ohne Strom. Wir hatten im Ringcafe Glück gehabt, das Restaurant hing an irgendeinem Notstromaggregat. Der Winter wurde richtig hart. Am schlimmsten erwischte es die Küste. Meterhoch schneite es die Insel Rügen ein. Das ganze öffentliche Leben kam zum erliegen. Die Armee wurde eingesetzt. Mit schwerer Technik, befreiten sie Straßen und Schienen vom Schnee. Auch in den Braunkohletagebauen mussten sie ran. Die Kohle fror teilweise an den Wagonwänden fest. Es kam großflächig zu Stromausfällen. Der Wirtschaft entstand riesiger Schaden. Da die Betriebe zu 95% staatliche Unternehmen waren blieb der Schaden am Staat hängen.
In meinem Betrieb tat sich auch was im Bereich Jugendarbeit. Es gab einen neuen FDJ – Sekretär. Er war zwei Jahre älter wie ich aber ein ganz  emsiger.  Unbedingt sollte ich wieder in die Organisation eintreten. Das lehnte ich entschieden ab. Um seinen Fähigkeiten zu beweisen, organisierte er zwei Konzerte mit Rockbands aus der DDR. Es waren nicht irgendwelche, sie standen in der ersten Reihe, Electra und MTS.  Das wollte ich mir keinesfalls entgehen lassen. Der neue FDJ – Sekretär bot mir Karten an. Ich tat gequält und als ob es eine Gnade wäre die  Karten anzunehmen. In Wirklichkeit freute ich mich riesig darüber. Die Konzerte waren Klasse, insbesondere gefielen mir die frechen Texte von MTS. Als Gastsängerin hatten sie Bettina Wegner geladen. Sie war eine Liedermacherin. Die Texte ihrer Lieder waren schon politischer Sprengstoff. Lange sollte sie auch nicht mehr im Land bleiben. Viele Künstler verließen die DDR. Sie konnten den Zwang und die Zensur nicht mehr ertragen. Ob es allerdings immer der Zwang war oder manchmal auch das liebe Geld  was lockte, das konnte man nur vermuten.

Ein Dilettant auf hohem Ross
Ist immer ein Rhinozeros*
* Reiterlied Reinhard Lakomy

 


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