Montag, 14. Februar 2011

Vissy Brod


Vissy Brod hieß zu Deutsch Hohenfurth. Überhaupt hatte fast jede Ortschaft in Böhmen einen Deutschen und einen Tschechischen Namen. Das hing mit der Geschichte Böhmens zusammen. Bis zum Ende des dreißigjährigen Krieges gehörte Böhmen und Mähren zum Heilig Römischen Reich Deutscher Nation. Böhmische Könige wurden mächtige deutsche Kaiser die über halb Europa herrschten. Deutsche und Tschechen lebten mehr oder weniger friedlich nebeneinander. Nach Beendigung des Krieges zerfiel das Reich in zwei Staaten, Deutschland und Österreich. Die Länder Böhmen und Mähren kamen zu Österreich. Das war der Grundstock für eine später entstehende Tschechoslowakische Republik. Die Nazis besetzten in den dreißiger Jahren diese Republik und säten viel Hass zwischen Deutschen und Tschechen. Die nach dem Weltkrieg entstandene Republik Tschechoslowakei vertrieb die Deutschen aus dem gemeinsamen Land. Mir war schon klar dass dahinter die Amerikaner, Engländer und Russen standen. Später näherte sie sich beiden deutschen Staaten wieder an, den Ostdeutschen aus Freundschaft, auch wenn sie zum Teil vom großen russischen Bruder verordnet war und den Westdeutschen wegen der allseits beliebten D-Mark.
Wir wurden in der Schule angehalten, tschechische Ortsbezeichnungen zu verwenden. Gleiches galt für Städte in Polen. In der 7. Klasse hatten wir eine Staatsbürgerkundelehrerin, die jedem zu einem Revanchisten erklärte, der deutsche Bezeichnungen verwendete. Auf meine Frage hin wie es denn mit Prag sei, denn niemand sagte das tschechische Wort Praha, meinte sie, das wäre die berühmte Ausnahme. Prag wäre eine internationale Bezeichnung für die Stadt. Ich bohrte weiter, wie es denn bei Pilsen und Budweis wäre. Ich sei ein pfiffiges Kerlchen, meinte sie und wechselte das Thema.
Jedenfalls war Vissy Brod ein romantisches Dorf mitten im Böhmerwald. Unser Ferienheim befand sich auf dem Gelände der tschechischen Bahn. Unmittelbar vor und hinter unserer Unterkunft verliefen Gleise. Züge fuhren hier in dieser Region Gott sei Dank nur wenige und das Gleis vor der Unterkunft sah aus als ob seit Jahren kein Zug mehr hier lang gekommen wäre. Der letzte Zug Abends kam gegen 22.00 Uhr. In Dresden wohnten wir ja auch in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die Eisenbahn sollte mich nicht stören. Unsere Unterkunft war eine Holzbaracke. Die Wände im Innenbereich waren teilweise aus Presspappe. In unserem Zimmer standen drei Feldbetten, drei Stühle, ein Tisch und ein ganz, ganz schlichter Schrank für die Sachen. Ich war zu frieden, mir reichte das. Gewaschen wurde sich in einem gemeinsamen Waschraum, warmes Wasser gab es keins. Also brauchten wir auch keine Dusche. Die Toiletten waren neben dem Bad. In der Küche konnte man sich mal einen Topf Wasser warm machen lassen. Dann gab es noch einen Frühstücksraum, der wie unsere Betriebskantine aussah mit einem kleinen abgetrennten Teil, wo ein Gasherd, Abwaschbecken und Geschirr stand. Hier befand sich das Reich die Heimleiterin. Sie war nicht nur wortgewaltig auch ihre körperlichen Ausmaße waren mächtig, gewaltig. Ihr feistes Gesicht erinnerte mich an Matronen aus den russischen Märchenfilmen. Sie erklärte uns gleich am ersten Tag, das die Wälder für Deutsche und Tschechen westlich von Vissy Brod gesperrt seien und wir uns ja daran halten sollten. In dem Heim waren die Hälfte deutsche Urlauber. Vater mahnte uns zur Höflichkeit, denn die Deutschen wären alle seine Kollegen, Ingenieure und zum Teil Doktoren. Mich kotzte diese Spießbürgerlichkeit richtig an. Konnte er damit nicht mal im Urlaub aufhören?! Als ob wir unhöflicher wären wie andere Kinder und Jugendliche. Es dauerte auch nicht lange da stellte Vater uns Doktor Lorenz vor. Doktor Lorenz wohnte „nämlich“ nebst Gattin und Söhnchen in Dresden 5 Ecken von uns entfernt. Ich fragte mich, warum ich laufend an ein Schwein denken musste, wenn ich Frau Lorenz anschaute?? Sohnimännchen war genauso alt wie Tobias. Er stand da als hätte er gerade in die Hosen geschissen, seine Brille mit den riesigen runden Gläsern rutschte auf seiner Nase hin und her. Tobias meinte das ist ein totaler Blödmann. Herr Lorenz lobte Sohnimann wie gut er in der Schule wäre und das er nach seinem Abitur Elektrotechnik studieren möchte. Da hatten sich zwei gesucht und gefunden. Vater fing auch gleich an von den geschickten Händen meines Bruders zu schwärmen und wie er den Trabi alleine repariert hatte. Ich verdrückte mich, das dumme Gequatsche musste ich mir nicht anhören. Ich hatte mir ein Buch mitgenommen. Ich haute mich auf das Bett und las. Vorher schaltete ich noch unser Kofferradio ein. Ich war gespannt was man hier für deutschsprachige Sender empfangen konnte. Ich war begeistert es waren bayrische und österreichische Sender. Am Besten kamen irgendwelche dritten Programme von den Österreichern. Nach einer Stunde kam Vater aufs Zimmer, er war noch ganz fasziniert von seinem Doktor Lorenz. Im Schlepptau von Vater kam mein Bruder mit. Er hatte die Nase voll von Familie Blödmann und sagte zu Vater, wenn du mit denen Abendbrot essen gehst komme ich nicht mit. Ich schloss mich umgehend der Meinung an. Vater war sauer. Aber was wollte er machen. 19.00 Uhr gingen wir in die Dorfgaststätte zum Abendbrot. Im Vorfeld der Reise hatten wir für jede Mahlzeit Talons bekommen, die konnten wir hier einlösen. Die Getränke mussten wir selber bezahlen. Das Hostinec war gut besucht, viele Einheimische gingen nach dem Feierabend in die Gaststätte. Tschechen waren gesellige Menschen, davon konnte man sich hier überzeugen. Während sich der Deutsche still und leise sein Plätzchen suchte und froh war alleine am Tisch zu sitzen, waren Tschechen lustige Gesellen. Niemand blieb alleine am Tisch sitzen. Die Kellnerinnen waren hier ganz schön am Rennen. Mit großen Biertrommeln auf denen sich jeweils 10 halbe Litergläser befanden sausten sie um Tische und Stühle und riefen Pivecka, Pivecka. Was wohl soviel wie Bierchen, Bierchen heißen sollte. Waren sie einmal rum im Schankraum hatten sie nur noch leere Gläser auf dem Tablett. Alle Achtung, diese Arbeit verlangte Kraft und Geschick. Vater sah das natürlich anders. Nur wer zu dumm zum studieren war, der musste kellnern. Verärgert sagte ich zu ihm, du kannst dir ja dein Essen an der Theke holen.
Unser Frühstück bereiteten wir selber. Da ich ein Frühaufsteher war, ging ich mit Herrn Nähring so gegen acht immer in den Konsum frische Hörnchen holen. Waren sie frisch, schmeckten sie richtig gut. Holte man sie mittags, konnte man damit jemanden eine Beule auf den Kopf schlagen. Die tschechische Wurst war gewöhnungsbedürftig. Sie war meist etwas fettig. Ich aß sie immer mit dem leckeren süßen tschechischen Senf. Während des Urlaubs und vor allem beim Einkauf stellte ich so für mich fest, dass Nährings ganz angenehme Menschen waren. Ich hatte mir das so nicht vorgestellt. Zu Andreas waren sie eigentlich sehr streng gewesen. Im Urlaub waren sie ganz locker, vor allem Herr Nähring. Wenn mein Vater beim spazieren gehen mit Frau Nähring vorne weg stürzte, Tobias und Frank hinterher trabten sagte Herr Nähring, Thomas lauf mal langsamer. Dann holte er aus der Jacke einen Flachmann und wir nahmen erst einmal einen kräftigen Schluck.
In dem kleinen Dorfkonsum, wo wir unsere Brötchen, Wurst , Butter und Marmelade kauften arbeiteten zwei Frauen. Die eine war schon älter so um die 30 und die jüngere war etwa so alt wie ich. Sie hatte pechschwarze Haare und eine dunkle Hautfarbe. Menschen mit dunkler Haut und schwarzen Haaren sah man viel in der CSSR. Ich wunderte mich darüber, was das wohl für Menschen waren. Auf alle fälle sprachen sie Tschechisch. Die Kleine war eine richtig Hübsche, sie hatte Rasse. Sie war ganz schlank und trotzdem ordentlich gebaut. Die ältere Tschechin war eine Mobbelbacke. Am vierten Urlaubstag betraten Herr Nähring und ich wie immer Früh den Konsum. Auf einmal sprach mich die Ältere der Verkäuferinnen an. Sie sagte im gebrochenen deutsch, hallo deutscher Junge bleib stehen bitte, Martha will dir sagen. Ich schaute sie mit großen Augen an. Wer war Martha? Die kleine Hübsche lächelte mich an. Die Ältere sprach weiter. Martha spricht deutsch nicht, aber ich  dir sagen, sie hat lieb dich und möchte gehen mit dir. Herr Nähring griente und trat zwei Meter zurück  und tat als ob er nichts gehört hätte. Ich hatte  das Gefühl, das mein Kopf wie ein roter Lampion glühte. Ich nickte ganz aufgeregt. Martha noch zwei Tage hier, dann Ferienlager, heute ab 15.00 Uhr hat Zeit. Wie im Trance hörte ich mich ja sagen. Ich glaubte zu träumen, ich war völlig platt. Überhaupt was war das für ein Name, wie kommt so eine dunkelhäutige Schönheit zu so einem altmodischen deutschen Namen. Ich bekam keinen klaren Gedanken zusammen. Alles Mögliche spukte in meinem Kopf rum. Ich fragte die Ältere, wo ich denn Martha 15.00 Uhr treffen kann. Martha hatte es verstanden und sagte hier. Also sprach sie doch ein paar Worte deutsch. Wir erledigten unseren Einkauf. Nach dem bezahlen drückte Martha mir einen Kuss auf den Mund und lachte. Herr Nähring sagte zu mir, Mensch Thomas da hast du ja einen tollen Fang gemacht. Da hatte er wohl Recht, nur wusste ich nicht genau wer da wen gefangen hatte. Mir viel das Lied von Jürgen Kerth ein, „ Sag mal Martha merkst du nicht, du hast doch nur noch Glück, seit ich mit dir gehe. Dein Aberglaube irritiert mich nicht…..“.
Zum Frühstück hatte Herr Nähring was zum erzählen. Karl, dein Sohn hat ja Chancen hier bei den Frauen. Mein Vater sagte, was Tobias? Herr Nähring sagte, Karl du hast vergessen, dass du noch einen anderen Sohn hast. Vater überhörte es.
15.00 Uhr trabte ich zum Konsum, Martha wartete schon. Nach dem Begrüßungskuss schleifte sie mich zum Kino und stellte mich ihren Freunden vor. Aber Kinokarten gab es keine mehr, der Film war ausverkauft. Mir war es alle mal recht, was sollte ich mir einen Film ansehen, dessen Sprache mir fremd war. Ich lud Martha ins Kaffee ein. Wir aßen zwei Früchteeisbecher mit Erdbeeren. Das war eine leckere Angelegenheit. So einen Eisbecher mit Erdbeeren gab es nur selten in der DDR. Anschließend bummelten wir verliebt durch Vissy Brod. Irgendwann standen wir an den Ufern der Moldau, der Platz war ideal. Nicht nur unsere Blicke vereinten sich. Martha wusste genau was sie wollte, sie zeigte mir wo es lang ging.  Wir hatten viel Zeit für uns. Ich schwebte in siebenten Himmel.
Als ich am Abend nach Hause kam, wechselte mein Bruder gerade den Keilriemen am Trabi. Recht so dachte ich, du wechselst den Keilriemen und ich habe meinen gerade geschliffen. Nach dem Abendbrot traf ich mich nochmals mit Martha. Ich hörte noch wie Vater seinen Lobgesang auf Tobias bei Nährings zu singen begann. Herr Nähring kam zu mir und sagte Thomas mach dir nichts draus und wünschte mir viel Spaß mit Martha. Nach Mitternacht kam ich nach Hause, alles schlief schon.
Am nächsten Morgen marschierten wir wieder in den Konsum. So nett bin ich noch nirgendwo empfangen wurden. Martha strahlte und gab mir einen Kuss. Die ältere Tschechin sagte zu mir dass Martha schon heute Abend in das Ferienlager fährt, sie aber ab 15.00 Uhr noch 2 Stunden frei hat. Vater und Tobias wollten baden fahren. Ich hatte keine Lust, haute mich aufs Bett und las in meinem Buch weiter. Es hieß die Abenteuer des Werner Holt. Ich glaube ich las das Buch schon das fünfte Mal. Es war einfach ein geiles Buch. Nach ca. 4 Stunden kamen meine beiden Strategen vom baden wieder. Pünktlich zum Mittag tauchten sie auf. Sie waren oberhalb der Staumauer im Bad des Lipnostausee gewesen. Nach dem Mittag machten sie Siesta  und ich mich auf zu Martha. Wir nutzten die uns verbleibende Zeit. Komisch, beim Abschied war ich gar nicht traurig. Mir war schon klar, dass wir uns im Leben nie mehr wieder sehen würden. Wir haben es einfach genossen, dass Leben in vollen Zügen.  Es war wirklich schön gewesen. Ich wünschte Martha alles Gute, verstehen konnte sie mich nicht. Aber sie hat es gefühlt. Sie umarmte mich ein letztes Mal. Ich ging und schaute mich nicht um. Leise sang ich vor mich hin.
Meine Freundin die heißt Martha,
die hat schon fast ein Spleen
Doch ich werd sie nicht verlassen
ich glaub das krieg ich wieder hin
Sie liest die Zukunft in den Sternen
weiß was kommt durch einen Traum
zupft jeden Schornsteinfeger am Ärmel
doch ich glaub nicht an den Schaum*
*Lied Jürgen Kerth

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