Montag, 14. Februar 2011

Der alltägliche Wahnsinn

Als Lehrlinge waren wir alle knapp bei Kasse. Das war ein generelles Problem. Um Geld zu sparen hatte jeder so seine Methode entwickelt. Regelmäßig tauschten wir uns darüber aus. Ganz oben auf der Liste des Sparens standen die öffentlichen Verkehrsmittel. Je nach Weg und Tarifzone waren es 5 – 70 Mark pro Monat die wir für die Öffentlichen ausgeben mussten. Das Meiste bezahlten die Thüringer. Sie fuhren im Monat  zwei bis dreimal nach Hause, dazu kamen die Kosten für die Nahverkehrmittel, wenn sie in die Berufsschule mussten. Die Kosten für zwei Fahrten im Monat in ihre Heimatorte bekamen sie erstattet. Stichwort Heimatort, Jürgen kam direkt aus Lobenstein, Thomas und Bernd kamen aus einem kleinen Ort direkt an der Westgrenze. Das Dorf hieß Pottiga. Um dorthin zu gelangen brauchte man einen Extrapassierschein für die 5 km Zone. Nur Bürger die da wohnten oder die da arbeiteten durften dort hinein. Alle Straßen die diese Zone tangierten wurden bewacht. Es war eine Grenze vor der Grenze. Um so einen Passierschein zu erlangen musste man bei der örtlichen Polizei einen Antrag stellen und dieser musste ordentlich begründet sein. Wer versuchte in diese Zone ohne Ausweis zu kommen und wurde erwischt, riskierte Gefängnisstrafe wegen versuchter Republikflucht. Aber zurück zu den Fahrtkosten. Meine Monatskarte kam 18 Mark. Das war viel Geld. Ich kam auf folgenden Dreh um das Geld zu sparen. Ich kaufte mir einen Einzelfahrschein für die Fahrt nach Pirna. Der kam eine Mark. Um ihn zu entwerten musste man das jeweilige Datum auf die Rückseite der Fahrkarte schreiben. Das Datum durfte nur mit Kuli geschrieben werden, damit man es nicht entfernen konnte. Also setzte ich mich in den Zug ohne die Fahrkarten zu entwerten und passte auf ob der Schaffner kam. Sah ich dass er im Anmarsch war, entwertete ich flugs meine Fahrkarte. Schnell stellte ich fest, so richtig effektiv war dies aber auch nicht, den drei bis viermal pro Woche wurde ich schon kontrolliert. Bestenfalls sparte man sechs Mark im Monat. Hagen meinte ich mache da was verkehrt. Du musst, sagte er zu mir, das Datum ganz dünn auf die Fahrkarte schreiben, anschließend kannst du das Datum mit der Rasierklinge ganz vorsichtig entfernen. Er zeigte mir, wie es ging. Bei der ersten Fahrkartenkontrolle war ich aufgeregt, dass der Kontrolleur doch etwas merken könnte. Aber die Aufregung war um sonst, es klappte prima. Zwiebel meinte, das ist ihm viel zu stressig. Er hätte eine bessere Methode. Er würde sich in den Gang zwischen den Wagons stellen. Da könne er sehen ob der Schaffner im Doppelstockwagon oben oder unten kontrollierte. Je nachdem wo er gerade wäre, würde er in die nicht kontrollierte Wagenhälfte verschwinden und eh der Schaffner die andere Hälfte auf dem Rückweg kontrolliert, ist er längst ausgestiegen.
Es war wieder Berufsschule, ich saß mit den Thüringern in der oberen Hälfte des Zuges, wir hatten uns nach dem Wochenende viel zu erzählen. Zwiebel stand auf halber Höhe und passte auf aus welcher Richtung der Schaffner kam. Plötzlich verschwand er nach unten. Ich drehte mich um und tatsächlich der Kontrolleur war im Anmarsch. Fix schrieb ich das Datum auf die Fahrkarte. Was Zwiebel nicht wusste, an dem Tag gab es noch einen zweiten Kontrolleur, der kontrollierte unten. Als wir in Pirna ausstiegen, fette er gerade Zwiebel ab. Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Zwiebel musste 20 Mark Strafe berappen, wegen Schwarzfahren.
Eigentlich interessierte es mich nicht, was die Eltern von meinen Lehrkameraden beruflich so machten. Von Bernd wusste ich sein Vater war Offizier in einer Grenzkompanie. Er erwähnte es in einem Gespräch. Bei der NVA waren vor kurzer Zeit neue Uniformen eingeführt worden. Im Volksmund hießen die Dienstuniformen „ Ein Strich Kein Strich“. Die Grundfarbe des Stoffes war grün. Bedruckt war der Stoff von oben bis unten mit kurzen braunen Streifen die etwa 5 mm breit und 3 cm lang waren. Daher der kuriose Name. Bernd meinte bei diesem Kampfanzug ist der Effekt der Tarnung besser im mitteleuropäischen Raum, wie der bei dem Kaki – Kampfanzug. Ich bezweifelte das. Thomas sagte er könne das nur bestätigen. Beim Pilze suchen hätte er schon zweimal die Lanzer in den neuen Anzügen übersehen. Das wäre ihm früher nie passiert. Ich fragte ihn ob er eigentlich in dem 5 km Streifen Pilze suchen darf. Normalerweise nicht, aber wo kein Kläger ist gibt es auch keine Verklagten. Als sie ihn erwischten, wurde er erst einmal festgesetzt bis sie seine Daten überprüft hatten. Bernd sagte, ihm wurde untersagt sich in unmittelbarer Grenznähe aufzuhalten. Silvester hatte er sich über den Zaun mit den Westgermanen vergnügt. Dafür hatte der Dorfpolizist ihm gewaltigen Ärger bereitet. Überhaupt wäre es im Grenzgebiet recht beschwerlich. Da weiß man nie wer bei „Horch und Guck“ ist. Das weiß man bei uns auch nicht, sagte ich,  aber ich konnte mir schon vorstellen, das bei so wenig Menschen die im Streifen leben, einen das doppelt belastet. Ich wollte von Bernd wissen ob es Möglichkeiten gab, heimlich über die Grenze zu huschen. Bernd druckste rum. Thomas sagte da gibt es nicht nur eine, für den, den es interessiert. Wir blödelten noch eine ganze Weile über dieses Thema. Ich fragte Bernd, ob es möglich ist an so eine Kaki – Jacke heranzukommen. Er wollte seinen Vater fragen. Aus seinem nächsten „Heimatkurzurlaub“ brachte er mir eine mit.
Als Kind hatte ich Briefmarken gesammelt. Die lagen nun irgendwo zu Hause in einer Ecke. Bei uns auf Arbeit war Kille der Philatelist. In einer Schulpause redeten wir einmal über unsere Schätze. Uwe sagt zu mir, komm doch heute einfach nach dem Unterricht mit zu mir nach Hause, da zeige ich dir mal meine Briefmarken. Also machten wir uns nach der Schule auf den Weg. Uwe wohnte in Pirna Copitz. Wir liefen über die Elbbrücke. Zu Hause angekommen, bimmelte Uwe, er hatte seinen Schlüssel früh vergessen ein zustecken. Sein Vater machte die Tür auf. Ich bis mir auf die Lippen, um nicht zu lachen. Uwe hatte die gleiche Frisur wie sein Vater, beide hatten denselben Kreuselgrepp auf den Kopf. Damit nicht genug, sein Bruder kam um die Ecke gepfiffen, der sah um den Kopf genauso aus. Ich sagte Mensch Kille, ihr könnt ja die „Jackson five“ imitieren, er lachte. Seine Briefmarkensammlung war um einiges größer wie meine und viel professioneller angelegt. Dazu hatte er ein Buch wo der Sammlerwert der Marken fest gehalten wurde, das war hoch interessant. Kille meinte die Bewertung gilt nur für die DDR. In der BRD setzt man andere Maßstäbe. Ich schaute ihn fragend an. Sieh dir die Marken von Brest – Litowsk an, die 1917 von den Deutschen gedruckt wurden. Ich sagte ja, was ist damit. Er blätterte in seinem Buch und da stand. Diese Gebiete wurden 1917 von den Deutschen okkupiert und somit sind die gedruckten Briefmarken wertlos. Ich sagte, das ist ja wirklich kurios, man kann die Geschichte doch nicht einfach ignorieren. In der DDR schon meinte Uwe.
Am nächsten Tag fuhren wir zu mir nach Hause. Ich fragte Kille ob er Hunger hat. Er sagte ja. Ich schmierte ihn zwei Schnitten und belegte sie mit Wurst. Uwe staunte, Wurst. Ich meinte so leicht hin, die gibt es doch auch bei euch. Nur am Wochenende, sagte Uwe. Merkwürdig, dachte ich, Uwes Eltern gehen doch arbeiten, so schlecht kann es denen ja gar nicht gehen.
Jedenfalls meine Briefmarken fand er auch interessant, vor allem die schönen Märchensätze gefielen ihm und die Marken aus Lichtenstein.
Vater sagte eines Tages zu mir, du könntest auch mal die Mutter besuchen. Ich dachte ich höre nicht richtig. Schließlich hatte meine Mutter die ganzen Jahre auf die Scheidung gedrängt. Außerdem hatte Mutter mich oft genug geschlagen und gequält. Böse sagte ich, das kannst du vergessen. Es langt doch zu wenn Tobias dort öfters aufkreuzt. Ich glaubte zwar nicht dass er aus Nächstenliebe zu Mutter ging, denn wenn er wiederkam wedelte er meist Stolz mit einem Geldschein. Er hatte schnell gelernt sich die Scheidungssituation zu nutze zu machen. Schon vor der Scheidung wusste er genau wo was zu holen war. Da war ich viel zu stolz dazu.
Ich fragte meinen Vater, wie kommst du überhaupt darauf? Er sagte, Mutter behauptet er würde gegen sie hetzen und deswegen käme ich nicht. Also machte ich mich auf die Strümpfe. Mit der Linie 9 fuhr ich bis Kleinzschachwitz. Sie wohnte eine Haltstelle vor der Endstation. Viel hatte ich ihr nicht zu sagen, nur das allgemeine Blablabla. Sie wollte mir auch Geld geben, obwohl ihr es nicht besonders gut ging. Ich lehnte ab. Sie begriff, dass sie mich verloren hatte. Es gab mir ein Gefühl tiefster innerer Befriedigung.
Bei Arnolds ging es der Oma immer schlechter, sie konnte kaum noch laufen. Herr Arnold hatte einen Rollstuhl besorgt. Es war ein richtig Schicker. Wer weiß wo er den organisiert hatte. Aus der DDR Produktion stammte er jedenfalls nicht. Rollstühle aus der DDR waren noch richtig altmodisch und vor allem unhandlich und schwer. Bewegt wurden diese mittels eines Gestänges. Der Benutzer musste dieses wie Skistöcke bewegen, damit der Wagen rollte. Der Rollstuhl von Arnolds war halb so schwer und hatte parallel zu den Rädern Reifen angebracht. Über diese konnte man den Stuhl lenken und bewegen. Roland kam auf die Idee mit diesem Wettrennen zu veranstalten. Wir brauchten schon eine Weile bis wir das Fahrzeug einigermaßen beherrschten. Aber es machte Laune damit rum zu düsen. Als wir wieder so ein Rennen veranstalteten, bekam Roland die Kurve nicht, knallte gegen die Rasenkante und flog im hohen Bogen aus dem Stuhl. Während ich mich noch halb kaputt lachte, kam Frau Arnold ganz erbost angesaust. Sie hatte gesehen, was wir angestellt hatten und nahm uns den Rollstuhl für immer weg. Jedenfalls konnte Oma Arnold bis zu ihrem baldigen Tod den Rollstuhl noch nutzen. Stolz und glücklich lächelnd drehte sie fast täglich ihre Runde im Hof.

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