Montag, 14. Februar 2011

Die Beerdigung

Nach der Schule fuhr ich mit dem Zug nach Hause und hing meinen Gedanken nach. Vater war schon zu Hause und schaute betreten rein. Irgendwo schien er immer noch an Mutter zu hängen. Tobias ging es auch nicht besonders. Vater sagte die Kripo war schon da, Mutter hat Selbstmord begangen, wahrscheinlich mit Tabletten. Die Obduktion muss noch durchgeführt werden, erst dann werden wir es genau erfahren. Die Freigabe von Mutter zog sich hin. Obwohl Vater es hätte nicht tun müssen, kümmerte er sich aber um die Beerdigung, sprich die ganzen Formalitäten. Mutter sollte im Grab von meinem großen Bruder bestattet werden. Er war mit sechs Jahren jung gestorben. Vater informierte auch die ganze Verwandtschaft. Das ich sie nach der Jugendweihe so schnell wieder sehen würde hätte ich nicht gedacht und schon gleich gar nicht unter diesen Umständen. Aus dem Haus bekamen wir viele Beileidsbekundungen. Ich weiß nicht warum, es war mir unangenehm. Endlich nach 3 Wochen wurde der Leichnam meiner Mutter frei gegeben. Es hatte sich der Verdacht bestätigt, sie hatte sich mit Tabletten vergiftet. Vater konnte jetzt den Termin für die Urnenbeisetzung fest machen. Der Tag der Beerdigung nahte. Onkel Kurt hatte sich mit Elfriede seiner Frau und Oma im Hotel auf der Prager Straße eingemietet. Kurt wohnte an der Ostsee auf Usedom. Er war mit Elfriede nach Thüringen gefahren um Oma zu holen. Oma wohnte in dem kleinen Ort Schwarza. Bernhard und Christel kamen auch zur Beerdigung. Sie brachten Omas Schwester, Tante Marie, mit. Mutter hatte einen Teil ihrer Kindheit bei Tante Marie verbracht. Das halbe Haus kam mit zur Beerdigung. Für Oma muss es der Gang nach Canossa gewesen sein. Die eigene Tochter zu Grabe tragen, das war der einzig wahre Bitterfelder Weg. Vater hatte uns einen schwarzen Binder gekauft. Es war das erste Mal das ich nicht rumnölte wegen eines Schlipses. Die Beerdigung war vormittags auf dem Tolkewitzer Friedhof. Der Tolkewitzer Friedhof war für mich schon immer etwas Besonderes gewesen. Als Kind hatten wir das Grab meines Bruders des Öfteren besucht. Mit der Straßenbahnlinie 10 fuhren wir vom Hbf bis zur Endstation, dem Tolkewitzer Straßenbahnhof. Dieser befand sich genau gegenüber vom Friedhof. In der Schlömichstraße wendete die Bahn. Beim Rangieren der Straßenbahn hatte ich oft fasziniert zugeschaut. Manchmal gingen wir nach Besuch des Grabes in die kleine Gaststätte am Friedhof. Aber meistens verließen wir diesen über dem Hinterausgang. Auf dem Weg dorthin versuchte ich immer die Namen auf den Grabsteinen zu entziffern und amüsierte mich über altmodische Namen unserer Altvorderen. Ein kleines Tor befand sich an der Tolkewitzer Straße, über dieses verließen wir den Friedhof, überquerten die Straße und standen unmittelbar an den Elbwiesen. Von hier aus spazierten wir immer entlang an der Elbe bis zum blauen Wunder, dieser einzigartigen Brücke. In unmittelbarer Brückennähe befand sich der Schillerplatz. Von hier fuhren wir mit der Straßenbahnlinie 4 bis zum Fucikplatz. Am Selbigen trafen sich die Linien 4 und 10. Hier stiegen wir um und fuhren noch die vier Haltestellen bis zum Hbf.
Der Tolkewitzer Friedhof hieß eigentlich richtig Johannisfriedhof, nur sagte das niemand. Er war Dresdens Hauptfriedhof und zweigeteilt, in den katholischen und den evangelischen Teil. Gewöhnlich wurden alle Toten die nicht der katholischen Konfession angehörten verbrannt. Aus diesem Grund befand sich auf der städtischen Seite des Friedhofes das Krematorium, genau gegenüber vom Haupteingang. Zwischen dem Haupteingang und dem Krematorium befand sich ein künstlich angelegter Teich. Als Kind hatte ich mich immer über die vielen Goldfische darin gefreut. Dieses Ensemble besaß eine ganz faszinierende Aura. Das Krematorium hatte etwas majestätisch, erhabenes. Es entstand in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts und war vom klassizistischen Baustil des 19. Jahrhunderts geprägt. Bei schönem Wetter spiegelte es sich im Teich wider. Es war ein schaurig schöner Anblick, so etwa musste Frankensteins Schloß ausgesehen haben. Dieser Eindruck verstärkte sich wenn gerade wieder Tote verbrannt wurden. Dicker schwarzer Qualm drängte dann aus den Schornsteinen. Genauso war es bei Mutters Urnenbeisetzung, mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Die Grabrede konnte man vergessen, nur bla,bla,bla. Das Grab von meinem Bruder befand sich unmittelbar neben dem eines Generals der einmal in der chinesischen Stadt Tsingtau stationiert war. Wir bestatteten Mutter mit im Grab unseres Bruders. Nach der Bestattung verließen wir den Friedhof Richtung Haupteingang. Wir wollten noch in die kleine Gaststätte gegenüber dem Friedhof. Als wir die Grabstätte verließen liefen wir an einem Mann mittleren Alters vorbei, der etwas Abseits stand und zu uns rüberschaute. Er stand die ganze Zeit während der Beerdigung da. Ob er wohl Mutters Freund war?


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