Montag, 14. Februar 2011

Die Berufsschule


Zur Lehrausbildung gehörte die Berufsschule, wie schon erwähnt wechselte sie wöchentlich mit der praktischen Ausbildung. Die Berufsschule befand sich in Pirna. Mit dem Zug fuhr man einfach 10 Minuten länger und war dann in Pirna, dem Tor zur sächsischen Schweiz.
Pirna war Kreisstadt mit ca. 40000 Einwohnern. Die Berufsschule begann 08.00 Uhr. Es reichte aus wenn ich den Zug um 7.00 Uhr nahm. Erster Tag Berufsschule, ich verabredete mich mit den Thüringern die in Heidenau Nord zustiegen. Also hängte ich in Heidenau meinen dicken Kopf zum Fenster raus, damit wir uns nicht verfehlten. Im Schlepptau kam noch Berze mit, das war gut so, denn er wusste wo sich die Schule befand. In Pirna angekommen leerte sich der Zug schlagartig. Wie sich rausstellte brauchte man nur der Masse nach zu toben und wir gelangten automatisch zur Berufsschule. Im Eingangsbereich hing ein Plan, wo stand welches Zimmer wir beziehen sollten. Ich setzte mich neben Löffel, vorne links auf die erste Reihe Türseite. Hinter mir saßen Thomas und Bernd. Punkt Acht bimmelte die Schulglocke. Kurz darauf ging die Tür auf und ein drahtiger Mann mittleren Alters betrat das Klassenzimmer. Neugierig schauten wir nach vorne. Er sagte kurz und bündig, Schrader ihr Klassenlehrer und bat um Verständnis das er nicht viel Zeit hat, da er Sportlehrer ist und eine Klasse auf ihn wartet. In einer ¼  Stunde käme ein Herr Herschel der uns alles erklärt und bis dahin bittet er um Ruhe. Schon war er verschwunden. Wir nutzten die Zeit uns mit den anderen Mitschülern bekannt zu machen, die noch dazu gestoßen waren. Andre, Rolf und Frank kamen aus der Sebnitzer Ecke und lernten in der Kunstblume Werkzeugmacher. Lutz kam aus Berggießhübel und sagte er lernt in einer kleinen Gießerei bzw. Schmiede  Werkzeugmacher. Wie sich später herausstellte war diese sogenannte Schmiede, eine Waffenfabrik, in der unter anderem Teile für die Kalaschnikow gefertigt wurden. Die Zeit war schnell rum, der ominöse Herr Herschel erschien. Er stellte sich kurz vor und sagte dass er eigentlich der Klassenlehrer für die Werkzeugmacher wäre. Da aber 76 ungefähr 40 Lehrlinge ausgebildet wurden, hat man sich entschlossen, zwei Werkzeugmacherklassen auf zu machen. Herr Schrader sei formell der Klassenlehrer aber für alles Fachliche wäre er zuständig. Schließlich könne er nicht in zwei Klassen der Klassenlehrer sein. Das war logisch. Nicht nur ich hatte den Eindruck dass Herr Herschel ein recht lockerer Typ war und trotzdem staunten wir nicht schlecht, als er uns seinen Lebenslauf erzählte.
Er hatte Werkzeugmacher gelernt und anschließend Maschinenbau studiert. Das klappte früher recht gut, da es noch keine allgemeine Wehrpflicht bei der kassanierten Volkspolizei gab, der Vorgängerorganisation der NVA. Um der später eingeführten Wehrpflicht zu entgehen, verpflichtete er sich für einen Zusatzabschluss in Pädagogik. Damit konnte er z.B. das Unterrichtsfach UTP lehren. Das er sich damit einen Strick selber gedreht hat, erzählte er weiter, war ihm damals noch nicht klar. Nach dem Studium bewarb er sich in verschiedenen Firmen als Maschinenbauingenieur. Aber jedes Mal wenn seine Katerakte nach kam wurde seine Bewerbung abgelehnt. In der DDR herrschte Lehrermangel, so war es den staatlichen Betrieben untersagt Ingenieure mit Pädagogikausbildung einzustellen. Er wurde mehrmals zum Rat der Stadt bestellt und dort wurde ihm eine Lehrerstelle angeboten. Dies lehnte er ab mit dem Hinweis auf freie Berufswahl. Darauf hin bewarb er sich bei einen der wenig verbliebenen Privatunternehmen. Er bekam eine Zusage. Am dem Tag als er seine Arbeit aufnehmen wollte, wurde er zum Eigentümer bestellt. Dieser teilte ihm kurz und bündig mit, dass eine Anstellung in seiner Firma nicht möglich wäre und das er sich auf dem Rat des Kreises zu melden hätte. Auf dem Rat des Kreises machte man ihn auf dem Umstand aufmerksam, dass man bis jetzt viel Geduld mit ihm hatte, es aber in der DDR nicht nur ein Recht auf Arbeit sondern auch eine Pflicht auf Arbeit gäbe. Sollte er sich weiter weigern eine Tätigkeit als Lehrer aufzunehmen, hätte das rechtliche Konsequenzen. Aus diesem Grund unterrichtet er an dieser Schule. Er sinnierte weiter, dass er als Lehrer das Recht hat nach 25 Jahren Lehrtätigkeit in Rente zu gehen. Dieser Tag wäre die Erfüllung seiner Träume. Danach war es still in der Klasse, man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Keiner von uns hatte zuvor eine solche offene Opposition erlebt. Von einem Lehrer hätte man so etwas gleich gar nicht erwartet. Dann kam er zum Fachlichen. Die einzelnen Fächer wurden prinzipiell als Doppelstunden unterrichtet. Da waren:
Marxismus - Leninismus
Betriebsökonomie / Sozialistisches Recht
Technische Grundlagenfächer / EDV / Materialwirtschaft
Werkzeugmaschinenkunde
Fertigungsmittel
Fachzeichnen
Werkstoffkunde
Sport
Bei dem Unterrichtsfach Fachzeichnen bekam ich leichte Bauchschmerzen. Das in der 9. Klasse unterrichte adäquate Fach Technisches Zeichnen war mir unheimlich schwer gefallen. Dieses Fach hatte ich mit Ach und Krach gerade so mit 3 abgeschlossen. Im Halbjahr hatte ich noch eine 4 gehabt, meine erste auf einem Zeugnis. Technische Zeichnungen lesen war für mich kein Problem, da war ich sogar richtig gut. Aber eine Zeichnung zu fertigen da war ich alles andere als gut. Ich konnte mir noch solche Mühe geben, Lineal und Zeichendreiecke vor Unterrichtsbeginn waschen, war ich fertig mit zeichnen, irgendetwas hatte ich immer verwischt, war schief oder krumm. Ausgerechnet in diesem Fach sollte uns Schuldirektor Gregor persönlich unterrichten. Herr Gregor war im Vorfeld schon bekannt für seine Strenge.
Herr Herschel schaute noch einmal kurz nach wer uns in Marxismus unterrichtete und meinte wir hätten Glück, das wir von Herrn Clauß gelehrt würden. Die andere Werkzeugmacherklasse hätte nicht das Glück. Sofort hakte ich nach, wie denn das zu verstehen wäre. Herschel meinte darauf, Herr Clauß wäre ein guter Pädagoge und Mensch. Herr Richter der andere Lehrer für Marxismus ist ein ehemaliger Politoffizier der NVA, der weltfremd im Kassernenton unterrichtet und jegliches Einfühlungsvermögen vermissen lässt.
Seine Stelle als stellvertretender Direktor verdanke er seiner Tätigkeit als Offizier und seiner blinden Linientreue und nicht etwa seinen fachlichen Kenntnissen. Mir verschlug es die Sprache. Aber im Großen und Ganzen klang das alles gar nicht so schlecht. Samstags brauchten wir auch nicht in die Schule, was wollte man mehr. Der Wermutstropfen den ich schlucken musste war der Schulschluss. Der war genau 14.00 Uhr und  Punkt 14.00 Uhr fuhr mein Zug nach Dresden. Der nächste fuhr erst 15.00 Uhr. Das war natürlich blöd, eine Stunde rumgammeln auf dem Bahnhof. Da wurden die Minuten zu Stunden.
Was an so einer Berufsschule natürlich immer interessant war, waren die vielen verschiedenen Ausbildungsrichtungen. Wo wir Jungs natürlich zuerst hin schauten, waren die Mädchenklassen, als da waren die Sekretärinnen und die Fachzeichnerinnen. Es waren schon ein paar interessante Modelle dabei. Früh auf den Weg zur Schule stiegen immer zwei junge Frauen ein, die mit mir nach Pirna fuhren. Vom Alter her schätzte ich sie Anfang 20. Eine von beiden hatte lange hellblond gefärbte Haare. Wer weiß wo die arbeiten, überlegte ich noch. Eines Tages sah ich beide in der Berufsschule. Verwundert dachte ich, na heu das sind doch nicht etwa Lehrerinnen. Waren sie nicht, sie waren genauso alt wie ich und gingen in die Lehrklasse für Sekretärinnen. Mit der Blonden kam ich eines Tages ins Gespräch. Wir saßen im Zug gemeinsam in einem Abteil. Sie verriet mir ihren Namen. Sie hieß Carina. Den Namen gab es nicht allzu häufig und ich überlegte in welchen Zusammenhang ich ihn schon einmal gehört hatte. Es viel mir wieder ein. In der Oberschule hatten einige Jungs von uns geschwärmt das es an der benachbarten 3. Oberschule vier Schwestern geben würde und die hübscheste wäre eine gewisse Carina mit blonden Haaren und einer respektablen Oberweite. Ich fragte Carina, ob sie in die 3. Oberschule gegangen wäre und ob sie noch drei Schwestern hätte, was sie bejahte. Carina wollte von mir wissen, wie ich überhaupt auf diese Zusammenhänge käme. Ich erklärte es ihr. Sie fühlte sich geschmeichelt. Ich dachte so für mich, wenn das die Hübscheste von den Vieren ist, möchte ich die Anderen drei gar nicht sehen. Aber das behielt ich lieber für mich.
Schnell merkten wir, dass sich bei den Lehrern zwei Gruppen gebildet hatten. Die größere Gruppe scharte sich um Herrn Herschel und Frau Binneberg die EDV Lehrerin. Die kleinere Gruppe sammelte sich um Herrn Richter. Die Lehrer die uns unterrichteten waren zu 90% der Gruppe Herschel zu zurechnen. Der Unterricht machte mir richtig Spaß. Das logische Denken wurde gefördert, der Unterrichtsstoff wurde locker durchgezogen, man hatte gewisse Freiheiten aber wehe einer durchbrach die Grenzen. Die Grenzen waren unsichtbar. Man erwartete einfach, dass wir genug Anstand und Verstand besaßen um sie zu erkennen. Frank Müller aus Sebnitz hatte da so gewisse Aussetzer. Er legte sich öfters mit Herschel an. Dieser schaute sich dass eine ganze Weile an und zitierte ihn eines Tages nach Vorne an die Tafel. Ich ahnte schon was kommen würde. Herschel ließ ihm keine Chance, das zog er brutal durch. Frank hatte vor 14 Tagen gefehlt er war krank gewesen. Genau über das vor 14 Tagen Gelehrte prüfte er ihn. Es kam wie es kommen musste, er fing sich eine 5 ein. Frank wollte aufbegehren und sich beim Direktor beschweren. Herschel meinte nur, das könne er tun, es interessiert ihn nicht. Frank beschwerte sich beim Direktor und bekam eine dicke Abfuhr. Wenn er krank war hätte er die Pflicht den verpassten Unterrichtsstoff nachzuholen. Ganz schnell begriff ich, wer sich mit bestimmten Lehrern anlegt, der hatte auch bei den Anderen verspielt. Frank war da uneinsichtiger, er mutierte zum Klassenarschloch. Seinen angestauten Frust suchte er bei uns los zu werden. Aber da stieß er auf eine geschlossene Wand. Das Prinzip Leben und Leben lassen galt auch hier und es zog sich durch alle Fächer. Irgendwann traf es jeden einmal, auch mich. Ich war einfach nur richtig faul, lernen tat ich nur im Notfall, nach dem Motto die 3 ist 1 des kleinen Mannes. Mir viel es ja im Großen und Ganzen auch nicht schwer. Hausaufgaben machte ich nur in Ausnahmefällen. Meistens sagte ich zu meinem Nachbarn kurz vor Unterrichtsbeginn: He, Löffel rück mal deine Hausaufgaben raus. Er wusste sofort was ich meinte. Löffel war viel zu intelligent um sich der Sache zu verweigern, zumal Thomas und Bernd es klasse fanden, wie ich das Problem löste, sie hängten sich einfach mit rein. Eines Tages hatten aber alle drei Thüringer die Hausaufgaben gemacht, nur ich wieder nicht. Das war für Löffel die Chance, als ich meinen Spruch wieder losließ; he Löffel…... Da sagte er zu mir, wie heiße ich? Im ersten Moment kapierte ich gar nicht was er wollte und sagte empört, los rück die Hausaufgaben raus. Er fragte mich wieder, wie heiß ich??? Bernd hinter mir grinste. Ich brummte böse zu ihm, das weißt du doch selber. Die Antwort gefiel ihm nicht. Er sagte nur, wenn du sie haben willst, überleg dir wie ich heiße. Vor diese Wahl gestellt, eine 5 für nicht gemachte Hausaufgaben zu bekommen oder ihm mit seinem Vornamen anzureden, da war ich konsequent, siegte die Faulheit. Ich sagte, Jürgen ich habe dich verstanden. Er rückte die Hausaufgaben raus. Bernd hinter mir quäkte, du Weichei, Thomas grinste. Erbost rief ich, halt die Fresse oder du fängst eine. Jürgen drehte sich um und meinte zu den Beiden, das gilt auch für Euch. Jetzt war das Grinsen an mir. Bernd wurde wütend und rief, warte Löffel heute im Internat, da bist du fällig. Jürgen war das natürlich nicht egal, gegen die beiden hatte er keine Chance und bat mich ihm zu helfen. In der nächsten Pause redete ich mit Bernd. Ich konnte ihn von dem Vorhaben abbringen, er meinte nur angefressen, der ist ein Löffel und bleibt ein Löffel.

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