Montag, 14. Februar 2011

Tante Erna

Der Besuch von Tante Erna stand an. Sie war 1965 offiziell in die BRD ausgereist. Tante Erna wohnte in Singen am Hohentwiel in der Nähe des Bodensees. Das bedeutete ich musste mein Zimmer räumen. Während der Schulzeit hatte ich mal rum gemault, warum denn gerade ich immer mein Zimmer räumen musste und nicht mein Bruder. Meine Eltern meinten kurz und bündig, so hätte sie es kürzer auf die Toilette. Tante Erna musste nachts zwei-drei Mal raus. Ich maulte weiter das es vom Zimmer meines Bruders gerade mal ein Meter weiter war. Mutter wurde laut, ich sollte nicht laufend rum meckern sondern auch mal an die Vorteile denken die ich hätte. Ich dachte so bei mir, die ihr habt. Egal, Tante Erna war eine Nette. Sie war weit über 70 und konnte wirklich schlecht laufen. Sie ließ sich von Singen mit einem Taxi nach Stuttgart fahren, das kostete schon über 100 DM. Dort ließ sie sich vom roten Kreuz in den Zug Stuttgart –  Nürnberg verfrachten und zwar in den Kurswagen nach Dresden. Der wurde in Nürnberg an den Interzonenzug nach Dresden gehangen. Gewöhnlich  hatte sie 2 Stunden Aufenthalt in Nürnberg. Dann fuhr der Zug zur innerdeutschen Grenze nach Gutenfürst. Dort stand der Zug auch noch einmal 2 Stunden bis die Grenzkontrollen erledigt waren. Weiter ging es über Leipzig nach Dresden, wo sie in den Abendstunden eintraf. In Dresden stand dann Familie Müller, komplett, und nahm sie in Empfang. Da legte mein Vater großen Wert drauf. Tante Erna machte sich für den Besuch immer extra schick. Bevor sie nach Dresden kam ging sie immer noch mal zum Friseur. Mein Bruder und ich lästerten darüber, denn Erna hatte nur noch wenige Haare. Dafür nahm ihr der Friseur in Singen 100 DM ab. In Dresden hätte sie für ihre Kaltwelle 20 M bezahlt. Gewöhnlich stellten sich bei uns auf einmal irgendwelche Leute ein, wenn die gute Tante kam, die man sonst nie zu Gesicht bekam. Davon mal abgesehen das auf dem Hbf genug Typen rum lungerten die für 1 DM den Koffer sonst wohin trugen. Unter den Gestalten die bei uns auftauchten war einer den man wohl ein Leben lang nicht vergisst. Er war der Sohn einer Jugendfreundin von ihr. Er bot sich an, sie für DM in der DDR rum zu fahren. Seine Art störte uns, sie war sehr unangenehm. Laufend versuchte er unsere Tante übers Ohr zu ziehen. Selbst seiner Verwandtschaft die im Nachbarhaus wohnte war dass peinlich. Kosten die ihm entstanden ließ er sich in DM bezahlen, natürlich 1 zu 1 verrechnet, zum offiziellen Umtauschkurs. Das Problem mit ihm löste sich auf eine ganz ungewöhnliche Art und Weise aber für solche Menschen eben typisch. Die DDR hat für BRD - Bürger irgendwann in den 60 – ziger Jahren einen Mindestumtausch eingeführt. Für jeden Tag den sie in der DDR verbrachten mussten sie in den 70 –ziger 20 DM tauschen und zwar 1 zu 1. Die meisten Bürger der BRD und der DDR empfanden es als ein Unrecht und nannten ihn Zwangsumtausch. Aber die BRD – Regierung war unfähig es zu verhindern. Gewöhnlich blieb die Tante um die 30 Tage. Geld brauchte sie keins, sie wurde ja überall hin eingeladen und selber war sie sehr bescheiden. Eines Tages sagte sie zu ihm, ich bezahle sie in Landeswehrung. Seit dem wurde er nie wieder gesehen. Wenn Tante Erna da war, roch es immer nach Kölnisch Wasser 4711 ihr Stammparfüm. Sie hörte auch immer ein bisschen spät. Eines Tages, mein Bruder und ich mussten in die Schule, brauchte Tante Erna im Bad etwas länger. Wir dämmerten davor. Mein Bruder sagte leise zu mir, die Alte könnte so langsam mal fertig werden. Wenn sie sonst nichts hörte, aber dass hatte sie gehört und speckerte gewaltig rum. Sie beschwerte sich bei Vater. Da es aber mein Bruder gesagt hatte und nicht ich, beschwichtigte er die Tante. Wenn Tante Erna da war, roch es nicht nur nach Parfüm, da gab es für jeden von uns Brüdern einen Hunderter, irgendwelche T – Shirts, Hemden und Bananen. Wir freuten uns wirklich über ihre Geschenke. Für die Tante war es ein Glücksgefühl ihre alte Heimat besuchen zu können. Sie blühte richtig auf. Viele Freunde hatte sie nicht in Singen. Das Freundschaften so gepflegt wurden wie in der DDR gab es selten in der BRD. Dort regelte Geld alles, in der DDR die Mangelwirtschaft. Sie ließ die Menschen automatisch enger zusammenrücken. Ihre Nachbarn in Singen, die Försters waren auch aus Dresden. Sie hatten die DDR illegal verlassen. Sie trauten sich nicht mehr in die DDR reisen, befürchteten Repressalien und waren jedes Mal am Boden zerstört, wenn Tante Erna nach Dresden fuhr.
Jedenfalls hatte mein Bruder nächstes Jahr Jugendweihe. Mit anderen Worten er sollte in dem Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden. Anlässlich der Feierlichkeiten wünschte er sich von Tante Erna ein Motorrad der Marke MZ 150 für ca. 1500 DM. Erna bezahlte das Motorrad bei der Firma Genex. Dort war es möglich Ware sofort zu kaufen auf die der DDR – Bürger lange warten musste, natürlich in DM und 1 zu 1 verrechnet. Vater unterstützte den Wunsch meines Bruders. Er durfte zwar das Motorrad erst mit 16 Jahren fahren, aber es war schon mal da. Ich dachte so bei mir und du hast zur Jugendweihe von der Tante eine Uhr für 50 DM von der Firma Anker bekommen, die keine zwei Jahre gehalten hatte. Na ja man soll Geschenke eben nicht an dem Wert messen, Hauptsache sie kommen von Herzen. Wie ich so den Gedanken nachhing und über die Gerechtigkeiten auf der Welt nachdachte, fragte mich Tante Erna, was ich mir denn zum Geburtstag wünsche. Mein Gesicht hellte sich auf und ich sagte Jeans. Tante meinte, ich könnte mir noch etwas wünschen, da mein Bruder ja schließlich ein Motorrad bekommt. Meine Laune besserte sich merklich und ich überlegte mir, was ich so gebrauchen könnte. Ich dachte, Mensch ein Taschenrechner das wär’s. Den kannst Du gut gebrauchen in der Berufsschule. So ein Ding kostet ca. 500 Ostmark, und im Westen mal gerade 60 DM. Den könnte sie mir zum Geburtstag in einem Paket schicken. Ich äußerte den Wunsch. Kaum hatte ich es gesagt, sprang mein Vater auf und brüllte mich an, wie man so unverschämt sein kann. Mir verschlug es im ersten Moment die Sprache. Fassungslos suchte ich nach Worten und quälte mühselig aus mir raus, Tobias bekommt zur Jugendweihe ein Motorrad für 1500 DM. Die Widerrede brachte mein Vater erst so richtig in fahrt. Er brüllte weiter, ich soll erst mal was im Leben leisten ehe ich solche Unverschämtheiten äußere, schließlich wäre Tante Erna die Patentante von meinem Bruder. So langsam aber sicher kochte die Wut in mir hoch, ich schrie zurück, behaltet euren Dreck, zog die 100 DM aus dem Portmonaise zerknüllte sie und warf sie auf den Fußboden und ging. Schwungvoll schmiss ich die Türen in den Rahmen und war aus Wohnstube und Wohnung verschwunden. Ich ging mit Roland ein Bier trinken und klagte ihm mein Leid. Bei Bier und einem warmen Bratenbrot wurde mir wohler. Roland konnte mich verstehen, meinte aber die 100 DM hätte er nicht weg geschmissen, das Eine hätte ja nichts mit dem Andern zu tun und er wäre froh wenn er das Geld besäße. Wir  diskutierten noch eine ganze Weile, wie weit man sich für 100 DM verrenken muss, sollte, darf. Als ich spät abends nach Hause kam lag der Geldschein sorgsam zusammengefaltet in der Küche. Ich steckte ihn in die Hosentasche. Jeans und Taschenrechner bekam ich zum Geburtstag.

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