Dienstag, 15. Februar 2011

Das zweite Zuhause

Die Mitropa war unser Stammlokal. Mit der Zeit beschlich einem das Gefühl zum Inventar geworden zu sein. Man hatte seine Lieblingskellner und es gab auch welche die wir nicht mochten. Die Lokalität untergliederte sich in drei Bereiche. Da gab es die zwei Säle Pirna und Meißen. Diese befanden sich auf halber Höhe im Bahnhof. Die Längstausrichtung des Bahnhofes verlief von Ost nach West. Wenn man von der Ostseite her den Bahnhof betrat  und Richtung Haupthalle lief, befand sich auf der linken Seite eine Pendeltüre. Wer sie durchschritt musste sich entscheiden ob er rechts die Treppe hinauf ging zum Saal Meißen oder links die Treppe zum Saal Pirna. In der Haupthalle befand sich ebenerdig der dritte Bereich der Mitropa, die Selbstbedienung. In die Selbstbedienung konnte man eigentlich überhaupt nicht gehen, da klebte der Bierdeckel am Tisch fest. Umso erstaunlicher war, dass ich durch die riesigen Schaufenster öfters zwei Lehrer aus meiner ehemaligen Schule dort sah. Nicht das sie dort lange blieben, sie schütteten schnell zwei, drei Bierchen hinter und verschwanden wieder. Selbst das wäre nicht mein Ding gewesen, so schnudlig war es da drinnen. Einer dieser Lehrer die ich dort sah war mein Musiklehrer Schmitt gewesen. Ich fand das dermaßen kurios, weil es so etwas von Gegensätzlich war. Herr Schmitt war von kleinem körperliche Maß und ein Mittfünfziger. Sein Gesicht rahmte eine schicke Goldrandbrille, die Haare waren silbergrau. Der Mode entsprechend waren die Ohren bedeckt. Stets erschien er im Anzug. Ich hegte schon den Verdacht, er ist in einem geboren worden. Je nach Anzug trug er eine passende Krawatte oder Fliege. Seine Konversation war immer eine Gepflegte, selbst wenn er wütend war. Genau ihn fand man in einer der schmutzigsten Kaschemmen von Dresden wieder. Wir ehemaligen Schüler schüttelten verwundert darüber den Kopf. Aber was soll man sagen, Lehrer waren auch Menschen, zumindest irgendwo.
Wir bevorzugten den Saal Pirna, warum kann ich eigentlich nicht sagen. Roland meinte, da wäre das Personal besser. Mir war es einfach egal und zu streiten hatte ich auch keine Lust über solche Lappalien. Hatte man sich für einen Saal entschieden, latschte man wie ein Gewohnheitstier das nächste mal wieder hin. Die Gaststätten befanden sich wie der ganze Hbf in einer Nichtraucherzone. Wollten wir eine rauchen, mussten wir auf die Toilette. Das wiederum brauchten wir im Saal Meißen nicht. Beide Säle hatten noch einen Vorraum. Der im Saal Meißen war meistens geschlossen und mit einem Vorhang versehen. Als Stammgäste boten uns die Kellner oftmals an dort Platz zu nehmen. Hier störte es niemand wenn wir rauchten. In einer ruhigen Minute setzten sich die Kellner dann mit zu uns. Kellner hatten überall hin Beziehung. So kam es ab und zu vor das man auch Dynamo Spieler hinter dem Vorhang traf. Als Leistungssportler wurde ihnen ans Herz gelegt in der Öffentlichkeit bedacht mit dem Alkohol umzugehen. Vom Rauchen ganz zu schweigen. Hinter dem Vorhang fragte niemand danach. Heinz der selber bei Dynamo gespielt hatte und jetzt für Tabak Dresden spielte meinte, der Trainer von Dynamo Walter Fritzsch ist da ein ganz strenger. Diese Art von Vergehen können ganz schnell eine Spielsperre nach sich ziehen.
Wie gesagt mit den meisten Kellnern kamen wir gut klar. Aber da gab es zwei die waren mir suspekt, der Eine sogar widerlich. Peter, einer von beiden ist mir persönlich nie dumm gekommen, im Gegenteil er war immer freundlich. Wir nannten ihn Wirtschaft-Leistung. Immer wenn er ein Bier brachte sagte er diese Worte. Er meinte damit wir sollten schneller trinken. Er war auch mit Abstand der Kellner, welcher am meisten sauste. Aber mir viel auf das er regelmäßig Gäste betrog. Saßen Ausländer am Tisch, in einer Bahnhofsgaststätte gab es reichlich davon, berechnete er ihnen eine Mark mehr fürs Bier. Klar die Speisekarte war nur in Deutsch abgefasst, da ließ sich das leicht bewerkstelligen. Das Bier war für die meisten Ausländer immer noch billig, die kamen gar nicht auf die Idee betrogen wurden zu sein. Irgendwann unterhielt ich mit Tina einer Kellnerin darüber. Sie sagte der Geschäftsleitung ist das nicht unbekannt, sie haben ihn auch schon mal betriebsintern abgemahnt. Aber so lange sich niemand beschwert werden sie nichts Ernsthaftes unternehmen. Dann war da noch Günther. Ihn schätzte ich auf Ende Fünfzig. Vom Auftreten her machte er immer den Eindruck eines Oberkellners. Allerdings war er sehr launenhaft. Mal war er super freundlich, mal grüßte er nicht. Er hatte eine Art Bier zu servieren die war einmalig. Beim laufen schwenkte er das Tablett im Wiegeschritt, nicht ein Tröpfchen schwappte aus den Gläsern, das machte er ganz geschickt. Er war nicht nur geschickt er war auch raffiniert. Roland waren die Zigaretten ausgegangen und wollte an der Gardarobe neue kaufen. Günther sagte bleib nur sitzen, gib mir Geld, ich bring sie dir mit. Roland gab ihm 20 Mark. Die Schachtel kam 3,20M, er brachte sie Roland. Als wir bezahlten sagte Roland zu ihm, meine drei Biere kannst du von dem Restgeld abziehen, eine Mark Trinkgeld ist für dich und den Rest bekomme ich wieder. Was für ein Rest fragte Günther und von welchem Geld soll ich was abziehen? Ich sagte zu ihm, na von den 20 Mark die Roland dir gegeben hat. Mir hat niemand 20 Mark gegeben, meinte Günther. Entweder ihr bezahlt jetzt oder ich hole den Schichtleiter. Roland sagte zu ihn, da kann ich ja froh sein dir keinen 50ziger gegeben zu haben, du alter Drecksack, kramte sein Kleingeld passend raus und ging. Ich rannte Roland hinterher. Das willst du Dir gefallen lassen? Er winkte ab.
Als ich Tina das nächste Mal sah, sprach ich sie bezüglich dieser Aktion von Günther an. Sie sagte mir, das ist ein kompliziertes Thema. Wenn du da Rabatz machst fliegt hier so einiges auf. Günther, Peter und noch einige Andere spielen heimlich nach Schichtschluss um Geld, um richtig viel Geld. Günther hat schon oft an einem Abend seinen ganzen Monatslohn verzockt, er ist spielsüchtig. Die anderen wissen das und nehmen ihn aus wie eine Weihnachtsgans. Was spielen die denn, fragte ich Tina? 17 und 4 antwortete sie. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie sie ihn beschissen. Obwohl es kriminell war was sie mit ihm machten, hatte ich kein Mitleid mit ihm. Sollte er doch sehen wie er an Geld kam, aber nicht bei uns. Eines Tages lernten wir einen Griechen im Saal Meißen kennen. In Dresden wohnten einige Griechen. Sie hatten in der DDR Asyl gefunden. Sie mussten aus politischen Gründen ihre Heimat verlassen. Er hieß Costas und gehörte zu jener Familie die auf der Hohen Straße wohnte. Seine Schwestern kannte jeder Jugendliche in unserer Gegend, das waren richtige Hingucker. Wenn ich meinen Klassenkameraden Andreas Otto auf der Budapester Straße besuchte musste ich an ihrem Wohnhaus vorbei. Oftmals beschalten sie den Hof mit ihrer griechischen Musik. Ich fand das unheimlich nervtötend und war froh dort nicht zu wohnen. Bis dato wusste ich gar nicht dass die Mädchen einen Bruder hatten. Costas war von Beruf Lebenskünstler. Mit seiner griechischen Staatsbürgerschaft konnte er nach Westberlin und in die BRD reisen. Was er auch reichlich nutzte und damit angab. Dort kaufte er aus irgendwelchen Ramschtischen Schallplatten. Er bezahlte nie mehr wie 5 DM für eine Platte. Hier verscherbelte er sie für 80 bis 120 Mark. Davon konnte er ganz gut Leben. Auch sonst noch lebte er von krummen Geschäften. Es war kein Zufall gewesen das wir ihn trafen. Er war es der uns gesucht und gefunden hatte. Es hatte ihn irgendwer gesteckt dass wir Bilder von Rockbands aus Zeitungen abfotografierten und vervielfältigten. Er wollte groß ins Pornogeschäft einsteigen und suchte Leute die dasselbe mit seinen Pornoheften machten. Er rief Summen auf die wir dabei verdienen könnten, da wurde einem ja richtig schwindlig, selbst wenn die Hälfte nur gesponnen war. Aber Roland und ich waren uns einig, das Geschäft war einfach zu heiß. Wir fischten schon mit unseren Bildern in einer Grauzone rum, die gerade so geduldet wurde. Das mit den Pornos würde Vater Staat niemals dulden und bis so etwas ans Licht kam, brauchte es gewöhnlich nie lange. Wir lehnten sein Angebot dankend ab. Er nahm es uns nicht weiter krumm. In seinem Schlepptau tauchten noch andere Typen mit auf. Schnell stellten wir fest, Costas verfügte über eine gut organisierte Bande. Er war also gar nicht so harmlos wie er immer tat. Sein rechte Hand kannte ich vom sehen, sie nannten ihn Gofy. Mit stolz geschwelter Brust erzählte er, dass er schon eingessen hätte. So langsam machte ich mir Gedanken wie man die Typen loswerden könnte. Aber das war gar nicht nötig. Wir waren für sie uninteressant geworden, sie verpissten sich von alleine.
Roger hatte Anfang Dezember Geburtstag, er lud Roland und mich dazu ein. Er wohnte noch bei seinen Eltern auf der Budapester Straße, gar nicht weit von den Griechen. Roger wurde 24. Ein bisschen merkwürdig fand ich es schon, dass er solche FDJler wie uns dazu mit einlud. Was solls dachten wir uns und tauchten zu der Feier mit auf. Viele Leute kamen nicht. Ich quatschte mit Rogers Mutter, sie wünschte sich das ihr Sohn mehr Anschluss an andere Freunde finden würde. Komisch dachte ich, als Kellner hat man doch genug Kontakt zu anderen Menschen. Auf alle Fälle kam Roswitha zu Rogers Geburtstag. Auch sie war Kellnerin in der Mitropa. Ich schätzte sie Mitte Zwanzig. Ihr Freund hatte sich vor ihren Augen vor einen Zug gestürzt. Verwunden hatte sie das nie richtig und seitdem Probleme mit dem Alkohol. Ich hatte sie einmal sturz betrunken auf Arbeit erlebt. Die Kollegen hatten leise still und heimlich ihr Revier mit übernommen, damit es nicht bis zum Chef drang. Sie konnte einem Leid tun. Es dauerte nicht lange nach ein paar Drinks kam Rosi richtig in Fahrt. Sie wurde leicht anzüglich. Mir war es nicht unangenehm. Rosi und ich verdrückten uns in den Wäschetrockenraum. Als wir gerade so richtig in Fahrt kamen, ging die Tür auf und Rogers Mutter stand da. Sie hatte für die Feier hier Zeug abgestellt. Schnell machte ich meine Hose wieder zu und das Leben war um eine Peinlichkeit reicher.
Es war mal wieder Sonnabend, Roland, Hüni und ich  wollten wieder in die Liga. Wir trafen uns in der Mitropa. Als Roland und ich die Lokalität betraten war Hüni schon da. Ich dachte ich seh nicht richtig, Hüni saß da und trank Limonade, einen halben Liter. Lachend fragte ich, bist du krank? In seiner unbekümmernden Art sagte er, es gibt kein Bier. Ich lachte wieder und schüttelte den Kopf. Gabi die Kellnerin kam, ich sagte zu ihr zwei Halbe. Nein meinte sie, es wird die nächsten zwei Stunden kein Bier ausgeschenkt. Wie das, ich war empört. Gabi sagte am Samstag vor zwei Wochen haben betrunkene Dynamofans hier rum randaliert, ebenso im Stahlstuhl. Seit heute darf in der Dresdner Innenstadt kein Bier mehr ausgeschenkt werden wenn Dynamo spielt, bis es von der Polizei wieder grünes Licht gibt. Das ging das nächste viertel Jahr so. Ich war richtig sauer auf die Bekloppten.


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